Ursprünglich hatte ich diesen Artikel mal für eine Yoga-Serie geschrieben.
Alle, die sich auch nur ansatzweise mit Yoga befasst haben, wissen, dass Yoga mehr ist, als eine Reihe von abgefahrenen und spektakulären Positionen oder Asanas, die von sehr beweglichen Menschen durchgeführt werden. Spätestens wenn man selbst versucht, einige der moderaten Übungen nachzumachen, merkt man: es ist keineswegs nur die Beweglichkeit. Sondern eine mindestens genauso große Herausforderung ist es, die Balance oder das Gleichgewicht zu halten.
Als ich vor rund 25 Jahren mit Yoga begonnen habe, bin ich fast am „Baum“ (Vrksasana) gescheitert. Dies ist eine Übung, bei der man auf einem Bein steht und den Fuß des anderen Beines an die Innenseite des Standbeins presst. Und dann die Hände nach oben streckt. Mir ist die Übung erst viel später, nach langem Üben, gelungen.
Das ist nur eine Yoga-Übung, die Balance oder Gleichgewicht schult. Von einem guten Gleichgewichtssinn profitieren wir aber alle. Gerade wenn wir älter werden, aber trotzdem fit bleiben wollen. Nicht nur der Körper soll fit bleiben, sondern auch der Kopf. Mit Gleichgewichtsübungen wird beides geschult und trainiert.
Was ist denn Balance überhaupt?
Balance heißt ja nichts anderes als Gleichgewicht. Und bei Wikipedia bekommst Du einen Überblick in welchen Bereichen wir diesen Begriff verwenden:
in der
- Politik,
- Ökologie,
- Wirtschaft
Dies sind alles komplexe Systeme, die in Bewegung sind und sich ständig ändern.
Für den Menschen besonders wichtig sind:
Das psychische Gleichgewicht, oder die Gelassenheit. Wenn wir mit uns und unserem Leben im Reinen sind, wenn die Work-Life-Balance stimmt, wir in einem stabilen Umfeld leben, dann können wir gelassen sein. Oder gelassen reagieren. Das ist natürlich der Wunsch vieler Menschen, aber schwer, auf Dauer zu halten. Unsere Umwelt, unser ganzes Leben, werden immer hektischer, komplexer und schneller. Veränderungen sind normal. Gelassenheit kommt aber oft mit zunehmendem Alter, also etwas worauf wir uns freuen sollten.
Der (körperliche) Gleichgewichtssinn: dieser setzt sich aus vielen, komplexen, Sinneswahrnehmungen zusammen. Dafür ist nicht nur ein Organ zuständig, sondern ein Feedbackmechanismus verschiedener Sinnes- oder Sensororgane. Auf Muskeln, Bändern und Sehnen finden sich Propriozeptoren, die dem Körper melden, wo er sich genau im Raum befindet. Aber auch Augen, Tastsinn der Haut und die Hörfunktion spielen hier eine wichtige Rolle.
Hört sich erst mal sehr theoretisch an, aber stelle es Dir einfach vor: Du versuchst, auf einem Bein zu stehen, in der Baum Stellung. Dein Körper ist daran nicht gewöhnt und will den Fuß, der nicht am Boden ist, dahin zurückbringen. Gehe jetzt einen Schritt weiter (nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinne) und stelle Dir vor, Du hast diese Übung so weit gemeistert. Jetzt schließe die Augen. Ziehe Dir Kopfhörer über und Du kannst Dich nicht mehr mit Deinem Gehörsinn orientieren. Das ist gleich eine ganz neue Herausforderung und es ist viel schwerer, die Balance zu halten. Wenn ich Dich jetzt mit nur einem Finger, ohne Kraftaufwand abstütze, kann Dir das helfen, das Gleichgewicht etwas leichter zu halten. Dein Körper hat eine Orientierung.
Ein sehr komplexes Zusammenspiel. Es erinnert mich an einen Fernsehbeitrag, den ich mal als Jugendliche gesehen hatte. Japanische Wissenschaftler hatten einen Roboter gebaut, der von den Proportionen einem menschlichen Körper sehr ähnlich war. Sie sind aber gescheitert, dieses „Gerät“ zum Gehen zu bringen, weil es immer wieder das Gleichgewicht verloren hat. Einfaches Gehen war für diesen Roboter zu komplex.
Warum sollte man sich über Balance Gedanken machen?
In bestimmten Regionen der Welt tragen Menschen (es sind wohl in den meisten Fällen Frauen) schwere Körbe oder Lasten auf dem Kopf
Wenn Du mal versucht hast, etwas Schweres zu tragen, wirst Du es selbst feststellen: wenn der Schwerpunkt des Gegenstandes nahe am Körperschwerpunkt ist, scheint der Gegenstand leichter zu sein. Und es ist besser für die Rückengesundheit.
Wenn Du Reiterin bist, kennst Du das: wenn Dein Schwerpunkt mit dem Schwerpunkt des Pferdes übereinstimmt, fühlt es sich für Ross und Reiter entspannt an. Beim Springreiten macht der Reiter sich dies zu Nutze, in dem er beim Sprung den Schwerpunkt durch Verlagerung des Gewichtes in jeder Phase anpasst.
Warum aber die Fähigkeit, Balance zu halten, für uns wichtig ist, merkt wir spätestens dann, wenn aus irgendwelchen Gründen dieser Gleichgewichtssinn gestört ist. Das passiert oft, wenn wir älter werden.
Mit zunehmendem Alter ändern sich Muskulatur und Körperhaltung und dadurch verschiebt sich der Körperschwerpunkt.
Gleichzeitig lassen Koordinationsfähigkeit, Beweglichkeit und Kraft nach, es fällt also schwerer, das Gleichgewicht zu halten. Schlimmstenfalls kommt es dann zu Stürzen, die gerade im fortgeschrittenen Alter komplizierte Knochenbrüche zur Folge haben können.
Auch wenn wir keine schweren Lasten auf dem Kopf tragen müssen, sollten wir etwas gegen den Verlust des Gleichgewichtes tun. Ob man jetzt Yoga praktiziert oder den Körper mit anderen Sportarten trainiert: die Hauptsache man wird aktiv.
Aber Yoga hat zweifellos einige Vorteile:
Man trainiert in der Regel barfuß. In den Fußsohlen haben wir einige Sensoren, die auch ganz subtile Bewegungen wahrnehmen, wenn wir das Gewicht verlagern. Barfuß werden diese Mechanorezeptoren eher angeregt und machen unsere Bewegungen genauer. Außerdem werden dadurch unsere Füße und Unterschenkel gekräftigt. Also, ruhig mal die Schuhe ausziehen und barfuß laufen, wenn der Untergrund geeignet ist. Oder wann immer es angebracht ist, auch barfuß trainieren.
Aber Yoga bietet noch weitere Möglichkeit, die Balance zu trainieren:
Balance stehend oder auf den Armen
Im Yoga kennen wir einmal die stehenden Positionen, wie Baum oder Krieger 3, die ganz intensiv die Stabilität, und Propriozeption (Wahrnehmung von Körperbewegung und -lage im Raum) trainieren. Für die Nicht-Yogis: beides sind Positionen, bei denen man auf einem Bein steht.
In der Einleitung habe ich ja bereits meine ersten Erfahrungen mit dem Baum beschrieben.
In der Zwischenzeit habe ich es gelernt, finde es aber immer noch eine Herausforderung. Besonders an solchen Tagen, wenn mein restliches Leben nicht im Gleichgewicht ist. Und ich habe festgestellt, dass ich es relativ schnell verlerne, wenn ich einige Zeit keine Gleichgewichtsübungen mache.
Der zweite Übungstyp sind die Arm-Balance Übungen, wie Side Plank und Crow (Krähe, siehe das Titelbild dieses Beitrages). Bei diesen Übungen braucht man die Koordination und Kraft von Ober und Unterkörper.
Auch hier ein Geständnis: die Krähe bekomme ich selbst heute nur für wenige Sekunden hin. Da ist das Hindernis wahrscheinlich eher in meinem Kopf und ich habe Angst, aufs Gesicht zu fallen.
Was Balance-Übungen für den Körper tun
- Balanceübungen trainieren Füße, Fußgelenke, Knie, Oberschenkel und Hüften. Und keine Sorge, wenn Du rumwackelst, weil Du noch nicht standfest bist. Dann wird gerade die Tiefenmuskulatur trainiert.
- Die Übungen kräftigen auch gleichzeitig den gesamten Rumpf, also Bauch, Rücken, Hüften und Gesäß. Damit verbessert sich unsere Haltung.
- Balanceübungen verbessern die Wahrnehmung des eigenen Körpers oder Propriozeption.
- Das Training verbessert Körperkontrolle und Effizienz der Bewegungen. Das heißt, wenn wir durch einen schmalen Durchgang gehen, stoßen wir nicht an.
- Es verbessert die Koordination der Bewegungen, Beweglichkeit, Geschwindigkeit und Kraft.
- Durch all das wird das Verletzungsrisiko reduziert, gerade die Gefahr von Stürzen nimmt ab.
- Balancetraining lässt uns zur Ruhe kommen. Wenn der Kopf noch voll ist und die Gedanken sich im Kreis drehen, fällt es extrem schwer auf einem Bein zu stehen.
- Last, but not least: das Training hilft einem, Durchhaltevermögen zu entwickeln. Spätestens dann, wenn man zum ersten Mal den Krieger 3 halten kann, gibt einem dies ein großes Erfolgsgefühl.
Was Balance Training für unser Gehirn tut
- Wenn man verschieden Balanceübungen hintereinander trainiert, wird das Gleichgewichtszentrum (das sich im Hirnstamm befindet) herausgefordert. Das trainiert nicht nur die Muskeln und das gesamte Bewegungssystem, sondern auch unser Gehirn.
- Das Training stimuliert die Vernetzungen im Gehirn, die auch für mentale Effizienz wie Konzentration und Fokus verantwortlich sind.
- Die neuromuskuläre Kommunikation wird verbessert und damit die Koordinationsfähigkeit. Ein heißer Tipp übrigens, für alle Menschen die beim Tanzen zwei linke Füße haben.
- Das Training verbessert die Fähigkeit von allen Muskeln schnell auf Reize zu reagieren. Ja, auch das passiert nicht einfach von allein.
- Balanceübungen verbessern die Zusammenarbeit von Sinnesreizen über das Innenohr, Auge, und andere Hautsensoren. Hört sich überflüssig an, aber spätestens, wenn man seekrank wird oder unter Reiseübelkeit leidet, erkennt man die Bedeutung. Bei Seekrankheit sieht das Auge den stabilen Horizont, das Gleichgewichtsorgan meldet aber unruhige See. Uns wird übel.
- Die Übungen helfen einem, abzuschalten. Wenn man nicht vollkommen auf die Position konzentriert ist, fällt man auf die Nase.
- Und man traut sich mehr zu: wenn es einem nach wochenlangen Versuchen, einem blauen Auge und Nasenbluten endlich mal gelingt, die Krähe zu halten – das gibt einem ein tolles Gefühl. Auch wenn einen das Umfeld etwas seltsam anschaut, wenn man stolz verkündet: ich habe heute die Krähe gemacht….Und nein, das ist keine Position aus dem Kamasutra.
Ok, alles verstanden, aber wie geht es denn?
Übung macht den Meister. Aber es gibt ein paar Tricks:
- Schaue fest auf einen Gegenstand oder Punkt, der sich natürlich nicht bewegen sollte. Ich stelle mir dann immer vor, meine Augen saugen sich daran fest. Oder beim Baum hilft das Bild von Wurzeln, die uns in der Erde fest verankern.
- Versuche zuerst, die verschiedenen Posen zu halten, zwischendurch kurze Entspannung und RESET. Erst wenn Du sicherer wirst, solltest Du Dich an Übergänge wagen. Also vom Krieger II versuchen, in den Krieger III zu gelangen.
- Achte darauf, dass Du Dich nicht verletzen kannst. Also weiche Unterlage und die Krähe eher vor einem weichen Sofa oder mit einem dicken Kissen üben.
- Wenn Du umfällst oder das Gleichgewicht verlierst – stehe wieder auf und mach weiter.
- Lasse Dir Zeit – in Hektik funktioniert das nie.
- Auch wenn es am Anfang schwerfällt und Du keinen Fortschritt zu sehen scheinst: Dein Körper lernt. Nicht aufgeben.
- Bei einigen Balanceübungen braucht man Muskelkraft. Viel Muskelkraft. Beim Side Plank zum Beispiel brauchst Du Kraft in den Armen. Da musst Du zuerst dran arbeiten.
- Wenn Du sicherer wirst, kannst Du Dich auch an schwierigere Posen heranwagen.
Und wenn Du die Krähe hinbekommst, schicke mir bitte ein Foto.
Was für ein bereichernder Artikel, liebe Heike, danke. Mit 18 Jahren habe ich mit Yoga begonnen. Da ich aufgrund eines Unfalls eine versteifte Wirbelsäule habe bekomme ich viele Übungen nur im Ansatz hin. So kann ich z.B. meine Füße nicht erreichen, da hilft auch tägliches Üben nicht. Mit den Balanceübungen hatte ich dagegen nie Probleme. Schon als Kind stand ich immer auf einem Bein, was mir den Spitznamen Flamingo eingebracht hat. Mein großes Vorbild Christiane Northrup empfiehlt in Ihrer neuen Videoreihe, genau wie Du, liebe Heike, die Balanceübung um jung und geschmeidig zu bleiben.
Alles Liebe
Annette